
Paulina Tews (36) ist MFA. Als VERAH arbeitet sie in Delegation, ist aber sehr selbstständig und trägt viel Verantwortung. Ihr macht es Spaß. Die Weiterbildung würde sie jederzeit wieder machen.
„Man muss sich trauen“
Paulina Tews ist MFA und seit Februar auch VERAH, versorgt nun viel eigenständiger als zuvor Patientinnen und Patienten und ist mit ihren Aufgaben gewachsen. Ihr Alltag ist abwechslungsreicher, aber auch herausfordernder. Unterwegs mit einer Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis.
Paulina Tews greift nach ihrer Plastikkiste. Darin stecken die Patientenkarteikarten für den heutigen Besuch im gegenüberliegenden Heim und alles, was sie zur Blutabnahme benötigt. Kurz noch ein Blick auf den PC, Handy in die Hosentasche, Schlüssel, eine kurze Info an die Kolleginnen, dann geht’s los. Der Kaffeebecher bleibt an diesem Mittwochmorgen halb ausgetrunken auf dem Schreibtisch in der Praxis zurück. Draußen nieselt es, der Wind zieht um die Ecke des Neubaus, das Rechteck, das mal Grünfläche werden soll, liegt noch matschig braun zwischen Praxis, Apotheke und dem Pflege- und Gesundheitszentrum der AWO. Eine Jacke ist trotz des Wetters für die wenigen Schritte nicht nötig, einfach kurz Schultern hochziehen. Rund 2.000 Einwohner leben hier in Bröckel, südöstlich von Celle, unmittelbar an der B-214. Die hausärztliche Praxisgemeinschaft, in der Tews seit 2007 arbeitet und in der sie auch ihre Ausbildung zur MFA gemacht hat, liegt direkt an der Hauptstraße. Hannover ist eine Dreiviertelstunde entfernt – willkommen auf dem niedersächsischen Land. Tews wohnt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern nicht weit entfernt und will genau dort bleiben. Das muss sie auch, denn sie hat sich gegenüber der Praxis auf drei weitere Jahre verpflichtet. Im Gegenzug finanzierten ihre Chefs ihr die Weiterbildung zur VERAH, also zur Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis. Im Februar schloss sie erfolgreich ab, in Kürze steht bereits die Prüfung zur NäPa (nichtärztliche Praxisassistentin) an. Dann darf sie sich zusätzlich um Themen wie häusliche Sterbebegleitung, Demenz oder dem Schmerzmanagement in der Hausarztpraxis widmen.
Tews rückt den Schulterriemen ihrer Tragetasche zurecht. Darin ist alles was sie für ihren Heimbesuch benötigt: Wundset, Covid-Test, Handschuhe, Mülltüte, Tupfer, Mundschutz, Urinbecher, Desinfektionsmittel, Blutdruckmessgerät, Mullbinden, Urinsticks und vieles mehr. Im Heim erwartet sie eine Pflegefachkraft, die sie bei den Patientenbesuchen begleitet. Kurzes Update zwischen den Kolleginnen, dann geht’s auch schon ins erste Zimmer.
„Guten Morgen, ich komme von Dr. Deblitz, Ihrem Hausarzt. Wie geht es Ihnen heute? Was machen die Beine. Haben Sie Schmerzen?“ Vorsichtig tastet Tews die geschwollenen Unterschenkel der alten Dame ab. „Ich spreche mit Dr. Deblitz wegen des Wassers in den Beinen und dann schauen wir mal, was er sagt.“ Ein Nicken der Patientin. „Kann ich sonst noch was für sie tun“, fragt Tews. „Nein, es geht mir gut“, kommt die Antwort. Das hört sie gern, aber einige Patienten würden auch flunkern, sagt Tews mit einem Lächeln, manche Informationen seien ihnen aber auch einfach unangenehm, zum Beispiel, wenn eine Wunde riecht. Tews mag ihre Pappenheimer trotzdem. „Bis zum nächsten Mal.“

Tews nimmt sich Zeit. Dass sie diese Möglichkeit als VERAH hat, schätzt nicht nur sie sehr – auch ihre Patientinnen und Patienten.
Reinwachsen in die neue Rolle
49 Bewohner hat das Heim. Das rot geklinkerte Gebäude, im März 2023 eröffnet, ist funktional, die Einzelzimmer nicht größer als in einem Krankenhaus. Gut die Hälfte der Patientinnen und Patienten, die Tews heute besucht, liegt im Bett, die andere sitzt im Rollstuhl oder auf dem Stuhl vor einem kleinen Tisch. Die jüngsten sind 58, die ältesten fast 100 Jahre alt, die einen können noch selbstständig zum kleinen Supermarkt an der nächsten Straßenecke gehen, die anderen sind Palliativfälle. „Querbeet“, nennt es die Pflegefachkraft. Für Tews war es gerade zu Beginn nicht einfach, sich auf die vielen Patientinnen und Patienten und ihre unterschiedlichen Bedürfnisse einzustellen.
„Zu Anfang war es komisch, VERAH zu sein, da musste ich mich erst dran gewöhnen“, erinnert sich Tews. Oft habe sie bei Unsicherheiten bei den Ärzten nachgefragt, aber viel Rückhalt bekommen. „Keine Sorge, keine Panik“, hätten die gesagt und sie beruhigt. „Mit den Ärzten habe ich eine Delegationsvereinbarung, in der klipp und klar geregelt ist, was ich darf und was nicht“, erklärt die VERAH. Dennoch: Man müsse sich auch trauen, die Aufgaben anzunehmen, sagt sie. Nicht alle seien dafür gemacht. „Bei einem Hausbesuch ist kein Arzt in der Nähe, beim Blutabnehmen steht kein Laborstuhl zur Verfügung. Man muss schon eine gewisse Souveränität gegenüber den Patienten ausstrahlen.“ Mittlerweile ist sie in ihrer neuen Verantwortung angekommen. „Es macht mir Spaß“.
Auf dem Flur stimmt sie sich erneut kurz mit der Pflegerin ab, dann öffnet sich schon die nächste Tür zum nächsten Zimmer. Bis zu acht Kilometer Strecke kommen für die Pflegekräfte auf den Fluren des Heims pro Schicht zusammen. „Wie geht es Ihnen? Sie kriegen schlecht Luft? Darf ich die Lunge abhören? Klingt jetzt aber nicht so schlecht für meine Ohren.“
Selbstständig Gehen kann die Patientin nicht mehr, Essen und Trinken wird angereicht, Trinkmenge maximal 1.000 Milliliter informiert die Pflegerin. Tews notiert eine AZ-Verschlechterung, misst noch den Blutdruck. „Ich bespreche heute Mittag mit Dr. Deblitz, ob wir Maßnahmen ergreifen sollen“, sagt sie zur Patientin und zur Kollegin. Die Besprechungen mit ihrem Chef erfolgen sowohl vor als auch nach den Besuchen, oft auch digital, erreichbar ist Hausarzt Björn Deblitz für Paulina Tews immer.

Der Patient ist dement. Tews (rechts) spricht ihm gut zu, bevor sie behutsam Blut abnimmt.
Zeit für die Patienten nehmen
Tews findet es schön, dass sie jetzt VERAH sein kann und darf. Bei den Hausbesuchen kann sie sich mehr Zeit als in der Praxis für die Patienten nehmen. Neben den Heimbesuchen fährt sie auch ins Umland, plant ihre Touren selbstständig, kommt mit den Patienten vor Ort ins Gespräch. So entstehe ein besonderes persönliches Verhältnis. Dass die VERAH nicht die Ärztin ist, sei den Patienten bewusst, störe aber niemanden. „Viele freuen sich, wenn ich vorbeikomme, die haben dann schon einen Kaffee auf dem Tisch.“
Im AWO-Heim geht es weiter, zahlreiche Bewohner warten noch auf Tews. Überstunden sind in ihrem Job die Regel. Eine alte Dame versteht Haut- statt Hausarzt, die Hörgeräte sind an diesem Morgen noch nicht eingesetzt. Gemeinsames Lachen. „Wie geht es Ihnen?“ Die Dame wünscht sich einen Rollstuhl, um mobiler zu sein und nicht immer um Hilfe bitten zu müssen. Ob das klappt? Tews kündigt an, mittags zu einer Quick-Messung wiederzukommen. „Dankeschön für Ihren Besuch“, sagt die Frau und fasst sich an die Lockenwickler. Sie muss sich erstmal zurecht machen.
Der nächste Patient sitzt im Rollstuhl, ist dement. Tews nimmt ihm vorsichtig Blut ab. Die Pflegefachkraft fragt derweil beim Journalisten nach, was das eigentlich für ein Artikel wird. Fürs kvn.magazin. Schwerpunkt MFA. „Das ist ja schön für die MFA, wenn es nicht immer nur um die Ärzte geht“, freut sich die Pflegerin.
„Wir haben mit unseren Ärzten in der Praxis Glück“, betont Tews. „Die vertrauen und fördern uns, das ist nicht selbstverständlich.“ Auch die Idee mit der VERAH-Weiterbildung kam von den Ärzten. „Ich musste erstmal ein bisschen über das Angebot nachdenken, um ehrlich zu sein. Na ja, viel Arbeit, zwei Kinder, Haus, ein Mann, der drei Schichten arbeitet und dann noch eine Weiterbildung. Wir haben ja alle noch was nebenher.“
Rund 140 Unterrichtseinheiten hat Tews dann nebenher absolviert, eine Prüfung abgelegt und eine Hausarbeit geschrieben. Gleichzeitig hat sie zusätzlich und freiwillig angefangen, in der Notaufnahme des Celler Krankenhauses zu arbeiten. „Einfach, um noch mehr zu sehen, fitter zu werden.“ Mittlerweile hat sie dort zwei feste Wochenenddienste im Monat übernommen. Notfälle können sie jetzt nicht mehr aus der Ruhe bringen.
„Bei einem Hausbesuch ist kein Arzt in der Nähe. Man muss schon eine gewisse Souveränität ausstrahlen.“
Paulina Tews,
MFA und VERAH
Zugewandt sein
Nächstes Zimmer, nächste ältere Dame. „Guten Morgen, ich wollte etwas Blut abnehmen.“ Müde sei sie, antwortet die Patientin. „Ich schlafe heute Vormittag noch mal ein.“ Tews streichelt ihr über den Arm. „Oh ja, jetzt ein Nickerchen, das wäre was.“ Stattdessen geht es weiter. Wieder eine Patientin. Dekubitus. Palliativ. Isst kaum noch. Eine AVO des Hausarztes für weitere Maßnahmen ist erforderlich. Noch ein Kontrollblick in den Mund. Dort alles okay. Manche Fälle kommen ihr auch nah, aber das kennt sie aus der Praxis.
Herr Meyer ist beim Frühstück im Gruppenraum. Kurzes Gespräch, eine Hand auf seiner Schulter. Im Radio läuft Chris Rea: „I can hear your heartbeat.“ Ein anderer Herr ist kürzlich gestürzt. Tews tastet seine Hüfte ab. „Da tut es weh.“ Sie begutachtet das Hämatom. An den Zimmerwänden blitzt auf Fotos die Vergangenheit des Mannes auf. Briefmarken hat er gesammelt und HSV-Fan ist er.
Die letzte Patientin des Tages hat ihr Leben in Bröckel verbracht. Seit Dezember 2023 ist sie im Heim. Ihr Motto: „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.“ Ihre VERAH erkennt sie nicht wieder. „Sie sind zum ersten Mal hier, oder?“ Tews lacht. „So in etwa“, antwortet sie und streichelt auch ihr über den Arm.
Zurück in der Praxis, zurück im Büro. „Ich bereue es auf keinen Fall“, sagt Tews über ihre VERAH-Ausbildung. „Toll ist die Abwechslung zum stressigen Praxisgeschehen und ich bin mal draußen.“ Die Kolleginnen kommen mittlerweile mit zahlreichen Anliegen erstmal zu ihr, fragen Tews beispielsweise, ob sie mal auf eine Wunde gucken kann. Für die VERAH fühlt sich das gut an.
„Wir sind ja MFA geworden, nicht nur weil wir gern mit Menschen arbeiten, sondern auch weil wir die Ärzte unterstützen wollen, damit die sich auf ihre Kernkompetenz konzentrieren können. Als VERAH kann ich die Ärzte noch mehr entlasten, man muss sich aber eben trauen, die Dinge zu übernehmen.“ Ist den Ärzten die Entlastung bewusst? „Doch“, sagt sie, „die freuen sich über jeden Hausbesuch, den sie nicht machen müssen. Auch wenn wir keine Ärzte sind, wir haben ja unsere Erfahrung gesammelt.“
Paulina Tews ist mit ihren Aufgaben gewachsen und nach der ersten Aufregung als frischgebackene VERAH mutiger geworden. Zufrieden setzt sie sich an ihren Computer, Arbeit gibt es immer. Draußen regnet es weiter. Die Stimmung in der Gemeinschaftspraxis in Bröckel ist gut. Schon heute Mittag geht Tews wieder rüber ins Heim zu ihren Patientinnen und Patienten. Und bald kommt der Frühling.