„Schneller im Gespräch, seltener vor Ort“
Der stellvertretende Vorsitzende der KVN, Thorsten Schmidt, über die Chancen der Telemedizin, die Umsetzung der Bereitschaftsdienstreform und warum das neue System die 112 entlastet.
Herr Schmidt, wir haben gemeinsam zuletzt im Oktober 2024 in der ersten Folge des KVN-Podcasts „ambulant relevant“ über die Reform des Bereitschaftsdienstes in Niedersachsen gesprochen. Damals war es ein Blick in die Zukunft, nun ist die Umsetzung abgeschlossen und das neue System läuft. Sind Sie zufrieden?
Ich bin sogar sehr zufrieden. Klar, Projekte solcher Größenordnung laufen nicht ohne Reibung ab, aber wirkliche Probleme gab es nicht und das Wichtigste, die Versorgung der Bevölkerung war während der Umstellung jederzeit gewährleistet. Jetzt, das möchte ich betonen, sind unsere Mitglieder deutlich entlastet und die Versorgung für die rund acht Millionen Niedersachsen ist besser und schneller als vorher.
Ich würde gern mit Ihnen genauer auf die einzelnen Aspekte schauen. Zunächst: Warum überhaupt eine Reform?
Der Bereitschaftsdienst war in seiner bisherigen Form einfach nicht mehr zeitgemäß. Neben der eigenen Praxistätigkeit regelmäßig Dienste zu schieben, stellte für die allermeisten unserer Mitglieder eine extrem hohe Zusatzbelastung dar. Immer weniger Ärztinnen und Ärzte wollten diese leisten. Die Arbeit in den Praxen ist in den letzten Jahren komplexer und auch umfangreicher geworden. Viele Ärztinnen und Ärzte gaben ihre Dienste daher an Vertreter ab.
Sie wollen also, dass sich die Mitglieder in den Praxen auf ihre Patientinnen und Patienten konzentrieren können und nicht am Montagmorgen nach einer Bereitschaftsdienstschicht müde zur Arbeit kommen?
Ganz genau. Und noch ein Aspekt, der zur Reform führte, ist mir wichtig: Die Diensteinteilungen waren in Niedersachsen recht ungleich verteilt. Das bringt ein Flächenland an dieser Stelle zwar einfach mit sich, unfair ist es trotzdem. Sprich die Ärztinnen und Ärzte in dünn besiedelten ländlichen Bereichen mussten öfters ran als die in Hannover oder Braunschweig. Auch das gibt es nun nicht mehr.
„Unsere Mitglieder profitieren von der Entlastung, haben mehr Frei- oder Familienzeit.“
Thorsten Schmidt,
stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung
Rechtliche Grundlage war, dass die Vertreterversammlung die Bereitschaftsdienstpflicht im letzten Jahr abgeschafft hat. Die Mitglieder müssen aber dafür nun eine gestiegene Bereitschaftsdienstumlage in Kauf nehmen.
Die Bereitschaftsdienstumlage, die alle KVN-Mitglieder auch bislang schon zahlten, liegt jetzt einheitlich bei 0,9 Prozent des Honorarumsatzes und damit höher als bisher. Hiermit werden die Kosten für den Betrieb der 69 Bereitschaftsdienstpraxen, für den Dienstleister des Fahrdienstes, der sowohl nichtärztliches als auch ärztliches Personal für den Fahrdienst stellt, sowie für die Bereitstellung der für Vertragsärztinnen und Vertragsärzte kostenlosen Infrastruktur für die Telemedizin im Bereitschaftsdienst finanziert.
Ihr Motto bei der Umsetzung der Reform hieß „Von der Pflicht zum Recht“. Was bedeutet das?
Niemand muss mehr, jeder, der möchte, kann aber. Der fahrende Bereitschaftsdienst wird seit dem 1. Juli 2025 vollständig durch die Johanniter gewährleistet. Wer als KVN-Mitglied dabei mitmachen will, kann sich an die Johanniter wenden. Eine Pflicht zum Bereitschaftsdienst gibt es aber eben nun nicht mehr.
Meinen Sie, dass sich durch die Reform mehr junge Ärztinnen und Ärzte in Niedersachsen niederlassen?
Es ist eine große Hoffnung, dass der Nachwuchs Niedersachsen als attraktiven Standort empfindet. Bei uns keinen Bereitschaftsdienst leisten zu müssen, ist auf jeden Fall ein überzeugendes Argument für eine Niederlassung in Niedersachsen. Wenn wir so dazu beitragen können, die Nachbesetzung von Vertragsarztsitzen insbesondere in ländlichen Regionen zu sichern, haben wir sehr viel erreicht.
Mit der Reform setzen Sie auf technologiegestützte Versorgungsprozesse, in erster Linie auf die Telemedizin.
Das ist richtig.
Die zentrale Steuerung erfolgt aber wie bislang über die Servicenummer 116117. Können Sie das kurz erläutern?
Die 116117 bleibt zentrale Anlaufstelle und steuert wie bisher alle Anfragen der Patientinnen und Patienten. Hier erfolgt eine standardisierte medizinische Ersteinschätzung. Wir setzen hier SmED (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung Deutschland) ein. Die Anruferinnen und Anrufer der 116117 werden hier – entsprechend ihres Beschwerdebildes und des daraus resultierenden notwendigen Behandlungszeitpunktes – in eine Versorgungsebene vermittelt. Das kann die Arztpraxis am Montagmorgen sein oder auch die Bereitschaftspraxis. Ist es dringender wird der Fall über die Dispositionszentrale direkt an einen Telemediziner weitergeleitet. Eine Ärztin oder ein Arzt ruft die Patienten dann entweder zurück, oder sie erhalten, über die Zusendung eines Links und einer TANs per SMS, direkten Zugang zu einer Videosprechstunde – ohne Download oder Installation von Apps oder anderen Anwendungen. Das erfolgt im Schnitt in 10 bis 20 Minuten. Zwischen 60 und 70 Prozent der Fälle können wir an dieser Stelle bereits abschließend telemedizinisch behandeln. Ist dennoch ein Vor-Ort-Besuch notwendig, wird der medizinische Fahrdienst losgeschickt – bereitgestellt durch die Johanniter-Unfallhilfe. Dieser soll vor allem durch gut ausgebildete Gesundheitsfachkräfte erfolgen und nur im Bedarfsfall durch Ärztinnen und Ärzte. Es gibt aber natürlich auch Fälle, da muss eine Ärztin oder ein Arzt vor Ort sein – nicht selten im Falle einer Leichenschau.
„Wir bieten den Gesundheitsfachkräften die Möglichkeit, immer einen Arzt per Video live dazuzuschalten.“
Thorsten Schmidt
Funktioniert das System vom Nebeneinander der Gesundheitsfachkräfte und der Ärztinnen und Ärzte?
Die ersten Monate haben gezeigt, dass im Fahrdienst zunächst vor allem Ärzte rausgeschickt wurden, weil sich das Vertrauen zur Anschlussversorgung zwischen Telemedizin und den Fachkräften natürlich erst aufbauen muss. Einige Tätigkeiten bedürfen ja ohnehin einer ärztlichen Bewertung. Das ist auch verständlich und ein Stück weit zu erwarten. Allerdings bieten wir den Gesundheitsfachkräften auch die Möglichkeit, immer einen Arzt per Video live dazuzuschalten, um zum Beispiel gestreamte Vitaldaten – unter anderem ein 12-Kanal-EKG – zu interpretieren. Das schafft Vertrauen in der Zusammenarbeit und erweitert das Einsatzspektrum der Gesundheitsfachkräfte. Die Ärzte sitzen gemeinsam mit den Disponenten als Backup in der Dispositionszentrale und können unmittelbar hinzugeschaltet werden oder Einsätze bewerten und priorisieren. Wir hoffen so, das ärztliche Personal auf der Straße noch besser entlasten und ergänzen zu können.
Die Vor-Ort-Besuche werden durch die Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. übernommen. Die Johanniter stellen dafür das qualifizierte Personal – ärztlich und nichtärztlich –, wie Sie es eben beschrieben haben. Wie sind die Johanniter regional aufgestellt?
Wir haben in Niedersachsen eine neue regionale Struktur mit nur noch acht Sektoren geschaffen. Bei dieser Neu-Aufteilung haben wir uns an der Krankenhausplanung orientiert. Von insgesamt 15 regionalen Wachen aus wird der Fahrdienst koordiniert.
Wie viele Ärztinnen und Ärzte sind wann in Bereitschaft?
Pro Schicht sind in Niedersachsen zwölf Ärztinnen und Ärzte im Einsatz, die von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Johanniter gefahren werden. Hinzu kommen 20 bis 24 Gesundheitsfachkräfte der Johanniter.
Der neue Service heißt KVN.akut. Wofür steht der Name?
KVN.akut steht für die zukunftsfähige und flexible Akutversorgung außerhalb der Öffnungszeiten von Vertragsarztpraxen und fügt sich in den Service der 116117 ein, worüber viele ambulante Versorgungsangebote bereitgestellt werden.
Die Telemedizin wird durch die durchaus umstrittene TeleClinic übernommen. Warum?
Die TeleClinic hat sich in unserer Ausschreibung gegen andere Mitbewerber durchgesetzt, weil sie die beste technische Infrastruktur für unser Modell bietet. Ziel war es, ein technisch komfortables und barrierearmes System zu etablieren – für Patienten, aber auch für die Ärzte. So war die Ausstellung von eRezepten und die Durchführung von Zuhause eine Kernanforderung. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass der Bereitschaftsdienst auch zu wenig attraktiven (Nacht-)Zeiten bereitgehalten werden muss. Die Ärztinnen und Ärzte, die für uns die Telemedizin machen, kommen zu mindestens 90 Prozent aus Niedersachsen und arbeiten frei, sind nicht bei der TeleClinic angestellt, nutzen nur deren Technik.
„Die Reform zeigt, wie gut die Telemedizin funktioniert.“
Thorsten Schmidt
Durch die Telemedizin können die Patientinnen und Patienten im Schnitt innerhalb von meist unter zwanzig Minuten mit einer Ärztin oder einem Arzt sprechen. Wie sind die Rückmeldungen von Seiten der Patienten?
Innerhalb kürzester Zeit medizinische Einschätzung und Rat zu erhalten, finden alle gut. Wir sind viel schneller im Gespräch als früher – und tatsächlich müssen Ärztinnen und Ärzte seltener vor Ort sein. Insgesamt konnten so die Wartezeiten auf einen Hausbesuch reduziert werden. Und wie gesagt, Patientenbeschwerden sind kaum noch vorhanden.
Ist Telemedizin für Sie auch ein Mittel, um die medizinische Versorgung in Zeiten des Ärztemangels zu sichern?
Die Reform zeigt, wie gut die Telemedizin funktioniert und wie schnell und unkompliziert sie den Menschen hilft. Gleichzeitig wird sie im bestehenden Modell vor allem überbrückend eingesetzt. Das heißt, dass ein Praxisbesuch nie vollumfänglich ersetzt werden kann, aber einen wichtigen und ergänzenden Beitrag leistet. Viele Vertragsärzte bieten die Videosprechstunde deshalb auch schon länger den eigenen Patienten an. Also ja, die Telemedizin wird zukünftig sicherlich auch in der Regelversorgung stärker zum Einsatz kommen und ist gerade in ländlichen Regionen ein Gewinn.
Inwieweit ist die Reform in das anstehende Notfallgesetz integrierbar?
Es ist jetzt schon so, dass die Reform Mehrfachanrufe und insbesondere das Ausweichen auf die 112 verhindert und so das Notfallsystem entlastet. Zehn, zwanzig Minuten zu warten, ist für alle hinnehmbar, da sinkt der Druck ganz signifikant, wie in der Vergangenheit, während der Wartezeit doch die 112 zu rufen, oder in die Notaufnahme zu gehen. Grundsätzlich müssen der Service der 116117 und die Leitstellen der 112 jedoch besser vernetzt werden – hier haben wir den zuständigen Ministerien bereits konkrete Vorschläge zur Umsetzung gemacht und sind im sehr guten Austausch. In den Notaufnahmen der Krankenhäuser benötigen wir ebenfalls ein Ersteinschätzungssystem und Steuerungsmechanismen.
Wie beurteilt die Politik die Reform?
Der Niedersächsische Gesundheitsminister Dr. Andreas Philippi, selbst Arzt, findet das Konzept super und unterstützt es uneingeschränkt. Wir werden es gemeinsam auch auf der Bundesebene vorstellen.
Zum Schluss: Wer sollte die 116117 rufen – und wer die 112?
In lebensbedrohlichen Notfällen sollte der Rettungsdienst unter der 112 gerufen werden. Bei geringeren Beschwerden, mit denen man sonst auch in die Arztpraxis gehen würde, sollen Patientinnen und Patienten hingegen die 116117 wählen. Der ärztliche Bereitschaftsdienst hilft außerhalb der Sprechstundenzeiten.