Schwerpunkt

Interview

„Das niedersächsische Modell wird sich bundesweit durchsetzen.“

Dr. Joachim Schwind, Geschäftsführendes Präsidialmitglied und Hauptgeschäftsführer des Niedersächsischen Landkreistages zur Frage, wie die Bereitschaftsdienstreform in der Fläche ankommt.

Interview: Lars Menz — Foto: NLT

Kvn.magazin: Herr Dr. Schwind, wie beurteilen Sie ganz allgemein die gegenwärtige medizinische Versorgungslage in Niedersachsen?
Die medizinische Versorgung macht uns insgesamt große Sorgen. Bei den Krankenhäusern sehen wir eine dramatische Unterfinanzierung, die zu dreistelligen Millionendefiziten in den Kommunalhaushalten führt. Im ambulanten Bereich stellt sich die Situation unterschiedlich dar. Wir haben in Stadt und Land eine Vielzahl engagierter Ärztinnen und Ärzte, aber es herrscht das Gefühl vor, dass alle am Limit sind. Eine stabile Hausarztbeziehung ist schwierig zu erreichen. Sorgen machen uns zudem die Regionen, in denen die Leute keinen Zugang zum Facharzt mehr finden, beispielsweise weil der nächste Augenarzt 30 Kilometer entfernt ist. Ich will aber deutlich sagen, am Engagement aller Beteiligten in den Arztpraxen mangelt es nicht.

Sie spielen auf die Fachkräftesituation an.
Die ist im Gesundheitsbereich dramatisch. Wir hoffen, dass wir mit den modernen Instrumenten wie der Telemedizin besseres Praxismanagement hinkriegen und die Versorgung der Bevölkerung auch in Zukunft sicherstellen können.

Wir wollen über die Bereitschaftsdienstreform und auch über die Telemedizin sprechen. Doch kurz ein Blick auf die Zeit davor. Wie haben Sie den Bereitschaftsdienst in Niedersachen damals wahrgenommen?
Vor der Reform hatten wir einen kritischen Blick auf den Kassenärztlichen Bereitschaftsdienst, weil oft Patienten, die die 116117 gewählt hatten, doch in der Notaufnahme oder bei der 112 gelandet sind. Insofern haben wir als Landkreise immer Verbesserungen angemahnt. Der Bereitschaftsdienst alter Art war nicht sinnvoll aufgestellt.

Sind Sie mit dieser Kritik auf die KVN zugegangen?
Wir haben das Glück, dass wir seit Corona einen ganz verlässlichen Kommunikationsdraht mit Herrn Barjenbruch und Herrn Schmidt vom KVN-Vorstand, aber auch mit der ganzen KVN haben. Wir suchen keine Schuldigen, sondern gemeinsam nach Lösungen.

„Wir haben bislang einen sehr positiven Blick auf die Reform. Ich muss wirklich sagen: Kompliment.”

Dr. Joachim Schwind

Wie blicken Sie nun auf die umgesetzte Reform?
Die Reform ist eine der größten stillen Reformen, die in der Versorgung der Bevölkerung in den letzten Jahren gelungen ist. Das Besondere ist ja, dass sie nicht groß in der Bevölkerung kommuniziert wurde, sondern einfach gemacht worden ist. Für die Menschen ändert sich ja auch erstmal nichts – die Telefonnummer ist die gleiche geblieben. Und wir haben keine Problemanzeigen vorliegen und sehen derzeit Aha-Erlebnisse.

Aha-Erlebnisse?
Ja! Wir haben bislang einen sehr positiven Blick auf die Reform. Ich muss wirklich sagen, Kompliment. Man ist mit einem guten Konzept an den Start gegangen. Es waren vorher längst nicht alle bei uns überzeugt, ich auch nicht, aber bis jetzt sind die Ergebnisse so, dass wir wirklich sagen müssen: Hochachtung, was da in den letzten Monaten aufgebaut wurde.

Was waren Ihre Befürchtungen?
Als Herr Schmidt die ersten Pläne vorstellte, die ja eine Reduzierung der Ärzteschaft vorsahen, waren wir skeptisch, ob das System wirklich zu einer Verbesserung oder nicht doch zu einer noch stärkeren Belastung der Rettungsdienste führen könnte. Wir befürchteten auch, dass uns nichtärztliches Personal im Rettungsdienst fehlt. Und problematisch fanden wir zudem das Orientieren an den Bezirken für die Krankenhausplanung, da unsere Landkreise im Rettungsdienst anders aufgestellt sind. Aber ich muss sagen, bis jetzt scheint alles reibungslos zu klappen. Gerade die Quote der Fallabschließungen in der Telemedizin bringt wichtige Entlastungen für das Gesamtsystem.

Sie sehen die Telemedizin also positiv?
Uneingeschränkt positiv. Das ist der Weg der Zukunft, auch für den normalen niedergelassenen Bereich. Auch im Rettungsdienst sind wir dabei, Telenotfallmedizin flächendeckend in Niedersachsen einzuführen. Das Nutzungsverhalten der Bevölkerung ändert sich ja rapide, wir absolvieren heute Sportkurse und machen Identifikationsprüfungen für Bankgeschäfte per Video, da kann man auch einfache Diagnosen am Bildschirm machen. Das hat sicher seine Grenzen, aber für die Erstbehandlung geht’s. Ich sage aber auch, der Bereitschaftsdienst darf nicht die niedergelassene Versorgung überholen. Das System darf nicht den Eindruck vermitteln, man bräuchte keinen Hausarzt mehr und alles könnte online geregelt werden. Das würde das System überdehnen.

„Bei den echten Problemfällen sind Hand, Augen und Ohren des Arztes unverzichtbar.“

Dr. Joachim Schwind

Also doch auch ein kritischer Blick von Ihnen auf die Telemedizin?
Bei den echten Problemfällen sind Hand, Augen und Ohren des Arztes unverzichtbar. Ebenso die Diagnostik in der Arztpraxis. Die kann man nicht ersetzen. Telemedizin ist aber eine Ergänzung, die viele Fälle erledigen kann beispielsweise die klassische Bindehautentzündung. Die Bereitschaft der Menschen, dies zu nutzen, wird weiter steigen. Telemedizin ist schnell, günstig und unaufwändig.

Was haben Sie aus den Landkreisen gehört?
Wir haben vereinbart, dass die Landkreise mir Bescheid geben, wenn es Probleme gibt. Das ist auch mit der KV so vereinbart. Aber es liegt uns derzeit keine einzige Problemanzeige vor. Das ist, glaube ich, doch das größte Lob für eine Reform.

Und was sagen Ihre Kolleginnen und Kollegen außerhalb von Niedersachsen? Schauen die hin, was wir hier machen?
Auf Ebene des Deutschen Landkreistages wird es dazu Austausch geben, der hat aber noch nicht stattgefunden. Die Lage in den einzelnen Ländern ist sehr unterschiedlich. Meine persönliche Einschätzung ist, dass sich das niedersächsische Modell in wenigen Jahren bundesweit durchsetzen wird. Die anderen kämpfen ja auch massiv mit der Ärzteknappheit.

Die Landschaft der Rettungsleitstellen in den Landkreisen wird sich ebenfalls verändern. Wie blicken Sie auf diese Situation, auch hinsichtlich der Zusammenarbeit mit dem Bereitschaftsdienst?
Das Innenministerium arbeitet an der gemeinsamen digitalen Fallübergabe in beide Richtungen, das ist ein erster Schritt, um die richtigen Versorgungswege zu beschreiten. In der Zukunft kann ich mir auch identische Systeme zur Ersteinschätzung und auch Synergien bei der Disposition gut vorstellen. Mit Gesundheitsminister Philippi sind wir zudem beim Thema Notfallreform einer Meinung. Wir müssen nur gemeinsam aufpassen, dass der Bund nicht irgendwas kaputtreformiert, was vor Ort ganz gut läuft. Meine Sorge ist, dass zu viele Berliner Vorgaben vom „grünen Tisch“ gemacht werden, ohne mit den Betroffenen zu reden. Mit der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen kann ich mir ansonsten praktisch jedes gemeinsame Projekt vorstellen.