Schwerpunkt

Reportage

Seit über 30 Jahren unterwegs: Peter Heidegger, Facharzt für Allgemeinmedizin, mag den Bereitschaftsdienst.

Im Einsatz

Peter Heidegger fährt seit über 30 Jahren im Bereitschaftsdienst – und nun bei KVN.akut. Er findet die Umstellung gut. Ein Mittwochnachmittag in Hannover.

Text: Lars Menz — Fotos: Johnny Katana, Lars Menz

Allgemeinmediziner Peter Heidegger kommt am frühen Mittwochnachmittag direkt von einem Meeting in die Zentrale, bespricht sich im Flur kurz mit einer jungen Ärztin, die heute beim fahrenden Bereitschaftsdienst hospitieren will und muss sich dann erst einmal umziehen. Er tauscht das weiße Hemd gegen ein graues Polo-Shirt und die blaue Chino gegen die rote Arbeitshose. Die Sicherheitsschuhe noch, dann trifft man sich im Aufenthaltsraum der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V., Dienststelle Ortsverband Hannover-Wasserturm. Von hier starten seit Mai die Teams von KVN.akut in den Bereitschaftsdienst, bestehend aus einem Arzt oder einer Ärztin und einer Fahrerin oder einem Fahrer. Alternativ bestehen die Besatzungen der Wagen aus Gesundheitsfachkräften und Fahrern. Arzt Peter Heidegger ist einer der erfahrensten Kollegen. Schon seit 1995 macht er vornehmlich Bereitschaftsdienst. Dazwischen war er zwar rund zehn Jahre in einer Gemeinschaftspraxis niedergelassen, sein Standbein war aber immer der ärztliche Not- und Fahrdienst. „Weil ich das immer sehr gut mit meiner Familiensituation verbinden konnte“, erklärt er. Seine Frau ist Australierin. Viele Jahre pendelte er zwischen den Kontinenten hin und her; seit Corona leben die beiden mit ihren Kindern in Hannover. Abends Dienst? „Passt mir supergut“, sagt Heidegger. „Dann kann ich mich tagsüber um meinen jüngsten Sohn kümmern.“ Aus diesem Grund übernimmt er auch viele Notfallsprechstunden und vertritt niedergelassene Kollegen im Sitzdienst.

Der 61-jährige isst Gummibärchen aus einer kleinen Tüte und schaut auf sein Diensthandy. Ein erster Fall wird angezeigt. Todesfall in einem Altersheim. Er drückt auf „Annehmen“. Trotzdem bleibt noch Zeit, Fragen der jungen ärztlichen Kollegin zu beantworten, die gerade vom Umziehen kommt und überlegt, sich bei den Johannitern für KVN.akut anstellen zu lassen. Sie hat jedoch Sorge vor den Nachtdiensten und „gruselt“ sich vor der Vorstellung, allein in ein fremdes Haus gehen zu müssen. „Nachtdienste werden tatsächlich von Frauen weniger gemacht“, sagt Heidegger, der selbst aber nur ganz selten Gewalt oder Bedrohungen bei seinen Diensten erlebt hat. Früher hätten die Ärztinnen auch mal den Taxifahrer gebeten, mit zum Patienten reinzugehen. Das gibt es heute nicht mehr. Die Fahrer bei KVN.akut begleiten die Ärztinnen und Ärzte ohnehin bis zum Einsatzort und arbeiten unter Anweisung mit dem ärztlichen Personal oder den Gesundheitsfachkräften eng zusammen, übernehmen beispielsweise Dokumentationspflichten.

Peter Heidegger und Fredderik Collins im Videogespräch.

Die neue Family

Heidegger zeigt der Kollegin noch die KVN.akut-App und teilt sie für heute einem anderen erfahrenen Kollegen zu, er selbst hat schon den Journalisten im Gepäck. Er steht auf. Los geht’s: Leichenschau in Gehrden. Die Dame wurde zuletzt um 13:48 Uhr lebend gesehen. Keine Vitalzeichen. Heidegger ruft im Altersheim an und spricht sich noch kurz mit der Pflegefachkraft ab. Auf dem Hof warten vier VW-Tiguan und Heideggers Fahrer Mark, seit Juni bei den Johannitern und gelernter Versicherungskaufmann. Beide fahren heute zum ersten Mal zusammen. Marks Aufgaben: Das Fahrzeug sicher führen, die Routenplanung übernehmen und Heidegger vor Ort unterstützen auch beim Tragen der Ausrüstung wie dem Notfallrucksack. „Am meisten Spaß am neuen Konzept macht mir das Team“, sagt Heidegger. „Jetzt habe ich eine ganze Family.“

„Die Fahrer bringen mindestens einen Erste-Hilfe-Kurs mit, die Gesundheitsfachkraft (GFK) hat hingegen eine medizinische Ausbildung. Das sind beispielsweise MFA, PAs oder Pfleger. 320 Stunden Fortbildungen mussten alle für KVN.akut noch ablegen“, erklärt Martin Riemann, Teamleiter bei KVN.akut in Hannover und selbst gelernter Notfallsanitäter. Er steht vor dem geöffneten Hallentor draußen auf dem Parkplatz bei den Einsatzfahrzeugen und ist ebenfalls stolz auf das neue Team. Riemann plant die Arbeitszeiten, hält Teambesprechungen ab und nimmt Sorgen und Nöte der Beteiligten auf. 40 Mitarbeitende in Teil- und Vollzeit leitet er und sucht noch weitere Mitstreiterinnen und Mitstreiter. „Die Gelegenheit, den aufstrebenden Bereich der KVN.akut als Teamleiter mit aufzubauen, hat mich gleich begeistert“, erzählt er und ist vom neuen System überzeugt: „Der Patient profitiert durch die vor dem Fahrdienst durchgeführte telemedizinische Ansprache, was zu einer effizienteren Zuordnung der Fahrdienste führt. Da ist auf digitalem Wege ganz viel ärztliche Kompetenz unterwegs.“ Gut findet er auch, dass es neben dem ärztlichen Personal die Gesundheitsfachkräfte gibt. Für Katheter- oder Verbandswechsel bräuchte für gewöhnlich nicht der Facharzt vor Ort sein. „Müssen ja nicht immer gleich mit dem Porsche vorfahren“, nennt Riemann das. Wo früher die Oma gewusst habe, dass ein Wadenwickel angezeigt sei, ständen jetzt die GFK bereit. Diese können Telemediziner in den Einsatz hinzuziehen. „Das ist bei KVN.akut sehr effizient und modern.“ Dann geht Riemann zurück in das große Gebäude, in dem auch Rettungswagen auf ihren Einsatz warten, um den Medikamentenschrank zu checken.

Peter Heidegger im Einsatz. Er schätzt die Unterstützung durch die Fahrer.

Heidegger und Kollege Collins zeigen das Corpuls-Gerät und den Notfallkoffer.

Die Fahrt beginnt

Heidegger ist derweil zu Mark in den Tiguan gestiegen. Gemeinsam geht es jetzt Richtung Laatzen. Es ist fast halb vier und das Wetter schwankt zwischen letzten Sonnenstrahlen und Herbstbeginn. Das Altersheim ist schmucklos. Im Foyer sitzen Senioren in Rollstühlen und schauen auf, wer da kommt. Heidegger steuert direkt auf den Fahrstuhl zu, hat während der Fahrt in die zweite Etage ein nettes Wort für einen betagten Herrn. Die verstorbene Dame ist 90 Jahre alt geworden, kam erst am Morgen aus dem Krankenhaus zurück. Auf ihrer Bettdecke liegen Rosenblätter. Heidegger untersucht sie mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung. Wie viele tote Menschen er gesehen hat, kann er nicht mehr zählen, bildhafte Erinnerungen hat er jedoch von einem Einsatz, bei dem er während des Abhorchens des Bauchraums Herztöne hörte und so unerwartet Leben entdeckte. Die junge Mutter wusste nichts von ihrer Schwangerschaft und wollte es zunächst auch nicht glauben Recht hatte Heidegger dennoch.

Die Unterlagen für die Todesfallbescheinigung auszufüllen, dauert fast eine halbe Stunde. Fünf Durchschläge, fünf Stempel und zahlreiche Briefumschläge. Heidegger nimmt es mit Humor. Fahrer Mark unterstützt ihn mit Einträgen ins iPad, dennoch scheint die Digitalisierung weit entfernt zu sein.

Wieder im Auto ist auch hier kurz Administratives zu tun. Kilometerangaben zum Einsatz müssen eingetragen werden. Anschließend gibt Heidegger seinen Wagen in der App wieder frei und sofort erscheint ein neuer Fall, den die beiden annehmen. Es geht nach Gehrden. Auch hier ist eine Leichenschau erforderlich, auch hier ist eine alte Dame verstorben. Die Leichenstarre ist schon ausgeprägt. Heidegger sieht nach den Totenflecken. Die Handschuhe landen in der Tonne. Dann wieder Papierkram.

Anschließend folgt eine dritte Leichenschau auf dem Kronsberg in Hannover, doch hier hat bereits eine Notärztin den Totenschein ausgefüllt. Der zusätzliche Anruf bei KVN.akut ist ein Versehen. Heidegger ist auch ohne seinen Einsatz berührt. Er kannte den Mann, früher selbst Arzt. „Für viele ist das Sterben eine Erleichterung“, sagt er, daher versuche er auch bei den Todesfällen, das Positive zu sehen.

„Die 116117 und die Telemedizin wickeln viele leichte Fälle bereits ab. Ich finde das gut.

Peter Heidegger

Zurück zum Stall

Wieder im Auto läuft im Oldie-Sender Dire Straits. „Jetzt geht es erstmal zurück zum Stall“, wie Heidegger es nennt. Der 61-jährige genießt die Fahrt und erzählt: „In den letzten Monaten wurden die Patientinnen und Patienten weniger, weil die Ersteinschätzung bei der 116117 und die Telemedizin viele leichtere Fälle bereits abgewickelt haben. Ich finde das gut. Es war ja oft nicht nötig, hinzufahren. Jetzt sind die anspruchsvolleren Fälle übrig.“ Das reizt ihn fachlich. „In der Praxis kann ich diagnostisch natürlich genauer hinschauen, Bluttests machen oder Vorbefunde sichten. Das geht im Notdienst nicht. Mit den wenigen Mitteln, die ich vor Ort zur Verfügung habe, Diagnosen zu stellen, genau nachzufragen und eine gründliche Anamnese durchzuführen, ist daher immer herausfordernd auch wenn ich von der Telemedizin vorab ein kurzes Beschwerdebild und eine Arbeitsdiagnose erhalte.“ Heidegger schätzt am Bereitschaftsdienst das selbstbestimmte Arbeiten. Jeden Tag andere Leute zu sehen und immer wieder in neue Situationen zu geraten, komme seinem Naturell entgegen. „Ich gehe gern auf die Bedürfnisse der Patienten ein“, sagt er, so entstehe der beste Kontakt. „Das macht mir Spaß.

Am Standort bei KVN.akut in Hannover übernimmt er bald die ärztliche Leitung. Darum ging es auch bei seinem Meeting am Vormittag. Ihm gefällt es, seine Erfahrungen einbringen und an die jungen Kolleginnen und Kollegen weitergeben zu können, Ansprechpartner zu sein, oder auch, sich um die richtige Packliste fürs Auto zu kümmern.

Immer im Einsatz

Der Wagen passiert die Schranke zum Hof der Johanniter. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Im Aufenthaltsraum ist wenig los. Fredderik Collins kommt hinzu. Der Rettungsassistent arbeitet als Gesundheitsfachkraft bei KVN.akut und ist wie Heidegger eine gefühlte Ewigkeit im Business. Der 61-jährige legt seinen Notfallkoffer auf den Tisch. Doch bevor er erklären kann, wie sich seine Ausrüstung von der der Ärzte unterscheidet, betritt ein Kollege der Johanniter den Aufenthaltsraum. Bleich und wackelig wendet er sich an Collins. „Mir geht es nicht gut, Schwindel und ein Druckgefühl hinten am Hals. Können Sie sich das mal ansehen?“ Heidegger und Collins nehmen den Mann mit nach nebenan, wo ein großes Sofa steht, machen ein EKG und messen den Blutdruck. Heidegger nutzt die Gelegenheit, sich von Collins nebenbei noch einmal das neue Corpuls-Gerät und die Telemedizin-Software Corpuls Mission erläutern zu lassen. Weitere Kolleginnen und Kollegen treten hinzu. Besorgte Mienen. Doch nach zehn Minuten geht es dem Mann schon besser. Eine Kollegin nimmt ihn mit an die frische Luft. Ein interner Einsatz kommt auch nicht täglich vor.

Der Feierabend naht

Heidegger und Collins beugen sich wieder über den Notfallkoffer, eine abgespeckte Version des RTW-Koffers. Im Fokus stünden hier Anamnese und Differenzialdiagnostik. Doch kaum hat Collins erneut mit seinen Ausführungen begonnen, kehrt die junge ärztliche Kollegin vom Nachmittag zurück. Die Ärzte tauschen sich über ihre Einsätze aus, die überall an diesem Mittwoch überschaubar blieben. Ob sie sich bewirbt? Kann sie sich gut vorstellen. Mit ihrem kleinen Kind lässt sich KVN.akut gut kombinieren.

Collins zieht den Reißverschluss des Koffers schließlich zu. Und Heidegger nimmt noch eine Tüte Gummibärchen. Es ist 22 Uhr und sein Dienst vorbei. Er wechselt wieder ins Hemd und in seine Chino, dann geht es mit dem Fahrrad nach Hause. Draußen ist es an diesem späten Mittwochabend frisch geworden. Samstags ist der Dienst meist aufregender, aber auch so, geht ein erfüllender Arbeitstag zu Ende.