„Bei Rot fuhr er wieder los“
Per Knöpfel über seinen Urgroßvater, die Anfänge des Bereitschaftsdienstes und wie ein altes Foto die Politik überzeugte
Dr. med. Franz Theodor Calame mit seiner Frau auf dem Opel 4/8 BJ 1909, auch Doktorwagen genannt. Dr. Calame war seit 1903 Hausarzt in Roßla im heutigen Sachsen-Anhalt am Südharz. 1909 hatte er das erste Auto in der Grafschaft Stolberg/Roßla.
Herr Knöpfel, Sie kommen aus einer Arztfamilie, in der immer schon Bereitschaftsdienst geleistet wurde. Was haben Ihnen ihr (Ur-)Großvater oder ihr Vater vom Bereitschaftsdienst berichtet?
Bereitschaftsdienst im heutigen Sinn gab es bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts nicht. Mein Großvater und mein Urgroßvater waren 24 Stunden, sieben Tage die Woche für ihre Patienten verfügbar. Allerdings waren das andere Zeiten. Es gab kaum Telefone, außer im Gasthof. Die Menschen haben sich drei Mal überlegt, ob sie den Doktor nachts aus dem Bett klingeln und mit seiner „Benzinkutsche“ in den Harztälern herumfahren lassen. Das kam so gut wie nie vor. Man musste ja zunächst zum Gasthof gehen, den Wirt rausklingeln und das Amt erreichen. Das Fräulein vom Amt musste dann eine Verbindung zu „Roßla 853“ herstellen und erst dann konnte man mit dem Arzt sprechen oder mit seiner Frau, wenn er nicht zuhause war. Meine Großmutter meldete sich am Telefon bis zu ihrem Tod 2005 mit 95 Jahren nicht mit ihrem Namen, sondern immer mit dem Amtsanschluss, der zuletzt Roßla 2853 lautete.
Sie sind in den 60er Jahren aufgewachsen. Welche Erinnerungen an Ihren Großvater haben Sie?
Ich erinnere mich, dass neben der Hofeinfahrt meines Großelternhauses das Küchenfenster war. Dort hatte mein Großvater eine kleine grüne und eine rote Lampe angebracht. Wenn er mit dem Wagen spät in die Hofeinfahrt fuhr, hatte meine Großmutter entweder grün oder rot angeschaltet. Grün bedeutete, dass er den Wagen in die Garage fahren konnte, da kein weiterer Hausbesuch anstand. Bei Rot klopfte er an das Küchenfenster, bekam von seiner Frau seinen nächsten Hausbesuch übergeben und fuhr wieder los.
„Die Patienten litten bis zum Morgenlicht. Waren sie bis dahin nicht verstorben, wurde angespannt.“
Per Knöpfel
War es damals üblich, nachts rauszufahren?
Nein, zur Zeit meines Urgroßvaters war es nicht üblich, nachts Patientenbesuche zu machen. Das war selten und nur sehr schweren Erkrankungen vorbehalten oder Hausgeburten mit Komplikationen, die die örtliche Hebamme nicht allein bewältigen konnte. Dann wurde schon mal auf einem Bauernhof der Küchentisch zum gynäkologischen Stuhl und die Geburtszange kam zum Einsatz. Die Leute waren genügsam und hart im Nehmen. Die Straßen waren unbeleuchtet und die beiden Karbidlampen des Opels reichten auch kaum aus, um sie erkennbar auszuleuchten. Die Patienten litten bis zum Morgenlicht. Waren sie bis dahin nicht verstorben, wurde angespannt, der Patient auf den Leiterwagen gelegt und nach Roßla in die Praxis oder das kleine Krankenhaus gefahren, das mein Urgroßvater und später mein Großvater dort mit zwei weiteren Ärzten betrieb.
Wann haben Sie selbst zum ersten Mal Bereitschaftsdienst gemacht?
Ich habe das erste Mal in den 1990er Jahren als Arzt in Weiterbildung Bereitschaftsdienst verrichtet. Damals war die Arztdichte sehr hoch und die Konkurrenz unter den Ärztinnen und Ärzten groß. Das nutzten einige, um im Bereitschaftsdienst ordentlich dazuzuverdienen. Entsprechend verwöhnt waren die Patientinnen und Patienten, die einen bei jeder Bagatelle zu sich nach Hause bestellten, egal wieviel Uhr es war. Die meisten Kolleginnen und Kollegen haben das erduldet, um keinen schlechten Ruf zu bekommen und fuhren außerdem aus Honorargründen bereitwillig jeden Hausbesuch – egal, ob er begründet oder unbegründet war.
„In meiner ersten Zeit als niedergelassener Hausarzt habe ich den Bereitschaftsdienst als belastend empfunden.“
Per Knöpfel
Per Knöpfel ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Hardegsen und Mitglied der Vertreterversammlung der KVN.
Wie empfanden Sie den Bereitschaftsdienst?
In meiner ersten Zeit als niedergelassener Hausarzt habe ich das als belastend empfunden. Die ländlichen Notdienstringe waren klein, meist nur eine Handvoll Ärzte, so dass man in der Woche ein- bis zweimal Nachtdienst und mindestens einmal im Monat dann durchgehend von Samstagmorgen bis Montagmorgen Wochenenddienst hatte. Privat- und Familienleben litten darunter sehr.
2003 haben Sie sich in Northeim bei der Gründung und dem Aufbau der ersten Bereitschaftsdienstpraxis im Landkreis engagiert.
Richtig. Die wurde von einem Verein betrieben, in dessen Vorstand ich bis zur Übergabe der Praxis an die DAEPN (Dienstleistungsgesellschaft für Ärzte-Psychotherapeuten Niedersachsen mbH) tätig war. Das war schon eine große Entlastung. Die aktuelle Reform des Fahrdienstes ist eine daraus resultierende konsequente Weiterentwicklung und Professionalisierung des Bereitschaftsdienstes, die ich zunächst hier in Göttingen-Northeim dann als Mitglied des Sicherstellungsausschusses begleiten und mitgestalten durfte.
Auch bei der Politik haben Sie für die aktuelle Reform geworben.
Im Vorfeld der Umsetzung war ich in Northeim in den Sozialausschuss des Landkreises geladen worden, da einige Bürgermeister der Region aufgescheucht waren, nachdem sie von den geplanten Änderungen im Bereitschaftsdienst erfahren hatten. Sie befürchteten eine Verschlechterung der Versorgung und gingen auf die Barrikaden. Hier schließt sich der Kreis zum Foto meines Urgroßvaters. Ich habe das Bild präsentiert und dem auch leicht auf Krawall gebürsteten Sozialausschuss und den Bürgermeistern erklärt, dass dies mein Urgroßvater sei, der mit seinem privaten PKW und seiner Arzttasche nachts über die Dörfer fuhr, und dass sich an diesem Zustand seit 1909 faktisch bis heute nichts geändert hat – und auch ich noch so wie er, wenn auch mit einem moderneren Auto, nachts mit meiner Tasche unterwegs bin. Ich habe gefragt, ob sie sich vorstellen könnten und trauen würden, sich heute in einem Krankenhaus in einem OP operieren zu lassen, der auf dem Stand von 1909 verblieben ist. Das Bild haben sie verstanden.